Wenn im Film jemand taucht, halte ich die Luft an: zu sehen, ob man es schafft. Lange dachte ich, das sei etwas, das alle tun, aber eigentlich sind es wenige. Findet man sie, weiß man, dass man etwas gemeinsam hat.
Ich sitze und halte die Luft und denke an Irina. Nie hätte sie so vor einem Bildschirm gesessen, mit gehaltenem Atem, das weiß ich. Aber wenn sie gewollt hätte, sie hätte es leicht geschafft. Mein Großvater hat einmal gesagt, Irina habe dieses Talent für das Wasser: Sie macht so ruhige lange Züge. Wenn ich im Freibad bin, denke ich diesen Satz, das Gesicht auf dem Wasser: halb tauchend, halb schwimmend. Ich bekomme ihn einfach nicht aus dem Kopf, er ist eine Zumutung, und ich kann nicht einmal sagen, warum.
Wie ich war mein Onkel Irinas russischem Akzent verfallen. Es musste so sein. Es hatte mit seinem Urgroßvater zu tun, der aus Russland gekommen war, das Gold eingenäht in den Gürtel. In den Erzählungen meiner Familie watet er in Siebenmeilenstiefeln durch Grenzflüsse, die Kinder auf seinen Schultern. Mit dem Gold kaufte er später ein Haus, und ich weiß wirklich nicht, warum gerade hier, vielleicht war es Zufall.
Das Haus war gerade weit genug vom Wasser entfernt. Man soll kein Haus nah am Wasser bauen, sagt man. Es zieht einem die Kraft aus dem Körper.
In der Gegend um dieses Haus waren fast alle aus der Familie geblieben, bis auf meinen Onkel. Niemand von uns ging gern auf Reisen, am wenigsten meine Großmutter. „In einem fremden Haus mach ich kein Auge zu“, sagte sie in ihrer Halbsprache, die ich verstand, aber nicht sprach.
Nachdem mein Onkel Irina getroffen hatte, schickten sie Fotos von überallher. Auf allen Fotos war Irina zu sehen. Sie war keine der Frauen, die ihre Körper auf Fotos hinter Kissen, Sträuchern, Blumenarrangements oder anderen Gästen versteckten.
Seit ich das erste Bild gesehen hatte, wollte ich sein wie Irina. Ich wollte ihre Jackie-O.-Sonnenbrillen tragen, ihre gelben Bikinis, die weiten Ärmel ihrer Mäntel und die dünnen Kleider. Ich wollte Zigaretten rauchen wie sie und beiläufig vor Oleanderbüschen, Palmen und Zitronenbäumen stehen, die See oder eine verschwommene Bergkette im Hintergrund.
Manchmal versuche ich, mir vorzustellen, was Irina mir geraten hätte. Ich wünschte, sie hätte mir irgendeinen Rat gegeben, der mit dem zu tun hatte, was ich auf den Fotos sah.
Außer auf den Fotos habe ich Irina nur zweimal gesehen. Einmal begleitete sie uns zu einem Ausflug an den See, und einmal besuchten wir sie und meinen Onkel in einer Stadtwohnung. An die Wohnung erinnere ich mich kaum, nur an die russischen Kuchen mit unglaublichen Namen, die Schale mit dem Schmuck vor dem Spiegel, die Seife und das Gästehandtuch im Bad.
Mein Onkel lebt schon lange nicht mehr in der Wohnung, er ist in New York geblieben, wo er Irina das letzte Mal sah. So sagt es meine Großmutter: Dein Onkel ist in New York geblieben. So wie sie es ausspricht, erinnert es daran, wie man in ihrer Sprache sagt, wenn jemand gestorben ist: Er ist tot geblieben.
Das Gästehandtuch in Irinas Bad war türkis. Wir hatten Watruschka, Tschäk-Tschäk und Vogelmilchtorte gegessen. Jetzt standen wir vor dem Spiegel und wuschen uns die Hände mit Zitronenseife, und Irina sagte zu mir: In einem fremden Bad ist es immer gut, die Enden des Handtuchs zu nehmen, nicht die Mitte. Die Mitte ist nass, aber eine trockene Ecke findet man immer. Es klingt dumm, aber bis heute suche ich in fremden Badezimmern nach den trockenen Ecken.
Einmal fuhren wir mit meinem Onkel und Irina an den See, die ganze Familie.
Es war ein sehr schöner Tag. Ich saß zwischen meiner Großmutter und Irina, wir tranken kalten Orangensaft und aßen all die anderen Dinge, die meine Großmutter in der Kühltasche hergetragen hatte: kleine Frikadellen mit scharfem Senf, Kartoffelsalat und saure Gurken, später Marmorkuchen und Obst. Es war perfekt.
Mein Onkel fotografierte alles: den See, dahinter den Birkenwald, das Schilf und den Steg, die Seerosen, und uns, am Ufer: die hellgelbe Decke, deren Fransen ich glattstrich, auf dem Heidesand, meine Großmutter unter ihrem Strohhut, Großvater im Klappstuhl, mit gekrempelten Hosen und beigem Strickhemd, Irina mit riesiger Sonnenbrille und offenem Haar.
Dann stand Irina auf und ging in den See. Sie schwamm in langen Zügen bis ans andere Ufer und kam nach einer kurzen Pause wieder zurück. Das war der Tag, an dem mein Großvater das mit Irinas Talent für das Wasser sagte. Das Seltsamste fand ich, dass sie aus dem Wasser kam und ihre Haare fast überhaupt nicht nass waren. Nur an den Spitzen, ganz leicht. Ich habe nie so schwimmen können. Irina trocknete sich nicht ab, sie legte sich einfach auf ein Handtuch und wartete, dass die Sonne sie trocknete.
Später, als ich alt genug war, bemühte ich mich, eine Frau zu sein, die sich auf Fotos nicht versteckte. Ich wusste, ich war anders als die Frauen im Dorf. Ich hasste die festen Stoffe ihrer Kleider und die harten, sperrigen Schnitte. Ich las eine Menge Modezeitschriften, fuhr zum Einkaufen in die Stadt und ertrug an Sonntagen ihre Blicke. Auf Fotos sieht man mich mit großen Ohrringen und leichten Sommerkleidern, und wenn ich mir früher die Bilder ansah, war ich stolz auf meinen Mut. Wenn ich jetzt die Bilder betrachte, sehe ich vor allem unsere Ähnlichkeit. Mein Schmuck und die dünnen Stoffe können mich nicht mehr so leicht täuschen.
Das letzte Foto, das mein Onkel uns schickte, zeigt Irina am Strand von Blue Point, Long Island, und diesmal ist auch mein Onkel zu sehen. Hinter ihnen Laubbäume, Sonnenschirme, Holztische, eine weiße Strandhütte mit Sternenflagge und leeren Barhockern davor, zwischen den Tischen Kies, Strandgras, gelb blühende Sträucher. Es muss ein heißer Tag gewesen sein, mit nur leichtem Wind. Im Gegenlicht sind die Blätter, die Schilder und die Gesichter sehr hell, fast weiß. Irina hält einen korallfarbenen Drink, und mein Onkel trägt einen Sonnenhut, er hat einen Arm um ihre Schultern gelegt.
Auf dem Bild sieht alles still aus. Aber vielleicht sieht es das immer.
Irgendwann danach muss Irina verschwunden sein. Meine Großmutter hat dazu nie etwas Genaues gesagt, aber ich bin sicher, dass es keine gewöhnliche Trennung war. Vielleicht war mein Onkel mit ihr in eines der schicken Restaurants an der Goldküste gefahren. Sie hatten gegessen, geraucht, aus dem Fenster gesehen, korallfarbene Drinks getrunken. Mein Onkel stand auf, um die Mäntel aus dem Wagen zu holen –.
Oder vielleicht gingen sie nach dem Essen, die Drinks in der Hand, zurück an den Strand. Es war windig geworden, aber die Luft war noch immer warm. Irina zog die Schuhe aus, sah meinen Onkel an und sagte: Lass uns schwimmen.
So vieles ist möglich.
Mein Onkel lebt bis heute in New York. New York, sagt man, ist die einzige Stadt der Welt, die in der Wirklichkeit aussieht wie im Film.
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